Freitag, 1. April 2011

Tradition und Moderne. Die Katastrophe in Japan

Tradition und Moderne


Die Katastrophe in Japan



Schlange vor einem Supermarkt in Sendai

High Tech und Zen, Tempel und Mangas: Für Deutsche steckt Japan voller Widersprüche. Was bewegt Japaner – und macht sie auch in Krisen gelassen?

Der 11. März hat die Welt verändert – und zwar ganz real: Als um 14.46 Uhr Ortszeit in Japan die Erde zu beben begann, wurde die 230 500 Quadratkilometer große Hauptinsel Honshu durch die Gewalt der Stöße um 2,4 Meter verschoben. Die Erschütterungen waren sogar in einer seismografischen Messstation auf der Zugspitze noch deutlich zu registrieren, Geologen rechnen das Erdbeben zu den „fünf größten Ereignissen seit Menschengedenken“.

Dann kam der Tsunami. Eine Flutwelle von mehr als 20 Meter Höhe überschwemmte die Küsten, zerstörte alles, was sich ihrer Wucht in den Weg stellte, und riss Tausende von Menschen in den Tod. Die offizielle Statistik gibt das Leid nur oberflächlich wieder. Sie zählt rund 10 000 Todesopfer, von den 15 000 Vermissten dürfte kaum jemand je gefunden werden. Mehr als 23 000 Gebäude wurden zerstört, fast 2000 Straßen und 53 Brücken sind beschädigt, und eine Viertelmillion Menschen musste Zuflucht in Notunterkünften suchen.

Am folgenreichsten waren die Schäden am Kernkraftwerk Fukushima im Norden Japans. Die Kühlsysteme der Reaktoren fielen aus, radioaktive Strahlung wurde freigesetzt, es drohten Kernschmelze und Super-GAU. Ein Gebiet im Umkreis von 20 Kilometern rund um die Meiler musste evakuiert werden und bleibt auf absehbare Zeit unbewohnbar, Hunderttausende verloren Heimat und Habe. Der 200 Kilometer südlich von Fukushima gelegenen Hauptstadt Tokio – einer Region mit rund 35 Millionen Einwohnern – droht die radioaktive Verseuchung.

Und die Bevölkerung? Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe reagiert sie mit für europäische Begriffe außergewöhnlicher Disziplin. Im 10 000 Kilometer entfernten Deutschland kommt es zu Menschenketten und Demonstrationen, doch noch nicht einmal vor der Firmenzentrale vonTepco

dem Betreiber des Unglücksreaktors, formiert sich Protest. Während sich hierzulande Bürger ohne reale Bedrohung sorgen, ob sie noch Sushi essen können, und Jodtabletten bunkern, ist vor Ort von Hysterie und Panik nichts zu spüren. In Supermärkten und an Tankstellen kommt es zu Hamsterkäufen, aber Plünderungen oder Übergriffe? Fehlanzeige.

Woher diese Ruhe? Warum beispielsweise kein Massenexodus, trotz der bisher rund 260 Nachbeben der Stärke sechs und mehr? Zunächst aus ganz praktischen Gründen: „Wohin sollten die Menschen denn gehen?“, fragt Helmut Becker, der seit Langem als Professor für Wirtschaftspolitik an der renommierten Sofia-Universität in Tokio lehrt. „In einem Radius von 80 Kilometern um Fukushima leben zwei Millionen Menschen, nimmt man die Region um Tokio hinzu, sogar 40 Millionen. Für die gäbe es gar kein Fluchtziel.“ Daher handele die Regierung – auch unter Mithilfe der Medien – nach der Devise „so weit wie möglich abwiegeln“. Und für viele kommt eine Flucht schon aus finanziellen Erwägungen nicht in Frage.


Reisbauern-Gesellschaft


So gelangt radioaktive Strahlung in den Körper


Schuld und Scham


Gleichwohl sehen Japan-Kenner wie Becker auch tiefere Gründe für die japanische Gelassenheit, die in der Mentalität und Tradition wurzeln. Mehr als alles andere bestimmt das Leben in der Gemeinschaft Verhalten und Normen des Landes – und das seit vielen Jahrhunderten. Nicht zuletzt die lange Erfahrung mit Naturkatastrophen lehrte die Bevölkerung vor allem eines: Nur mit einer gemeinschaftlichen Anstrengung sind die Folgen zu bewältigen. Prägend war darüber hinaus auch das Leben in einer Agrargesellschaft, in der das Grundnahrungsmittel Reis nur von der Gruppe angebaut werden konnte. In einem solchen System wird enge Zusammenarbeit zur Überlebensfrage. Helmut Becker spricht denn auch von einer „Reisbauern-Gesellschaft“, deren Mentalität bis heute fortwirkt.


Mit weit reichenden Auswirkungen auf die sozialen Mechanismen. Wer sich nicht den Regeln der Gemeinschaft unterordnete, musste im Japan des Mittelalters mit „Mura hashibu“, dem Ausschluss aus dem Dorf, rechnen. Vor diesem Hintergrund kennen Japaner die Scham, wo Europäer von Schuld sprechen. „Schuld ist etwas Individuelles, Scham hat mit der Gruppe zu tun“, erläutert Becker. „Wenn sich einer ein Fehlverhalten leistet, leiden sofort andere darunter.“ Konsequenz: „In Japan gibt es nichts Schlimmeres als die Schande.“ Die ist gleichbedeutend mit dem gefürchteten Gesichtsverlust, der unbedingt zu vermeiden ist. Das lernen Japaner schon im Kindesalter. Wo europäische Eltern ihrem Nachwuchs bei Fehlern mit Strafen drohen, genügt japanischen Vätern und Müttern der Hinweis: Man wird über dich lachen.

Mentalität und Masse

Das Inselreich ist eine Massengesellschaft, die ohne Einordnung nicht funktionieren kann. Heute leben dort rund 127 Millionen Menschen, die meisten in riesigen Ballungszentren – und die müssen miteinander auskommen, ob sie wollen oder nicht. Ohne Disziplin, Rücksichtnahme und Respekt? Undenkbar. Das prägt das Leben bis in den Alltag hinein. Stets gilt es, die Form zu wahren und Gefühle in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen. Ein Kuss auf offener Straße wäre eine Zumutung für andere, allenfalls ganz junge Paare spazieren händchenhaltend durch die Städte. Auch wütendes Schimpfen käme einem Japaner kaum in den Sinn. Während Europäer mit wildem Gestikulieren und Kraftausdrücken auf einen knapp verpassten Zug reagieren, bleiben Japaner gelassen – und lächeln. Mit Emotionslosigkeit sei das nicht zu verwechseln, erklärt Franziska Ehmcke, Japanologie-Professorin an der Uni Köln. In solchen Situationen sei Lächeln zwar nur eine Grimasse, hinter der Japaner sehr wohl Ärger erkennen. Der werde aber nicht offen gezeigt, „weil man der Meinung ist, dass ein lächelndes Gesicht für das Gegenüber noch am besten zu ertragen ist“.

Schweigen statt reden

Die Maske ist allgegenwärtig – und doch nicht immer Ausdruck von echter Freundlichkeit. Ebenso gut kann das Lächeln Verlegenheit überspielen oder die Scham über eigene Unkenntnis. Es ist Bestandteil einer nonverbalen Kommunikation, die in Japan mindestens ebenso wichtig ist wie Worte. Schon die Verbeugung oder das Überreichen der Visitenkarte sind keine bloßen Usancen, sondern unverzichtbarer Bestandteil der Verständigung. Für westliche Ohren mag es paradox klingen, aber auch Schweigen gehört zum Gespräch. Selbst in Verhandlungen über Millionendeals kann es vorkommen, dass das japanische Gegenüber die Augen schließt – und lange Zeit nichts sagt. Daraus auf Desinteresse oder Ablehnung zu schließen, wäre ein grober Fehler, denn hinter der scheinbaren Abwesenheit verbirgt sich oft konzentrierte Aufmerksamkeit.

Im Geschäftsleben kommt es häufig schon deshalb zu Missverständnissen, weil Europäer zu wenig Zeit mitbringen. Wo Deutsche oder Amerikaner ohne Umwege aufs Ziel zusteuern und möglichst schnell eine Entscheidung erzielen wollen, umschreiben ihre Gesprächspartner oder formulieren mehrdeutig, Absichten direkt zu äußern ist als unelegant verpönt. Die unverblümte Art der Europäer ist Japanern fremd, sie deuten lieber an, tasten sich vor, und was wirklich gemeint ist, kann stark vom Gesagten abweichen. Und immer gilt: Wer laut wird, hat verloren.

Überdies ist die Sprache weitaus subtiler und komplexer als die westlicher Gesellschaften. Es kommt darauf an, zwischen den Zeilen zu lesen, auf Andeutungen, Zwischentöne und den Kontext zu achten. Allein für den Begriff „ich“ kennt das Japanische mehr als 20 Ausdrücke, die je nach konkreter Situation benutzt werden. Zwar gibt es das Wort „nein“, in der Praxis wird es freilich so gut wie nie benutzt. Um so häufiger hört der Gesprächspartner ein „Hai“, also ein „Ja“ – gemeint ist damit aber oft nur „Ich habe Ihnen zugehört“. Wie etwas gesagt wird, hängt stark von der sozialen Stellung ab. Ist der Gesprächspartner ein Mann oder eine Frau? Ein Vorgesetzter oder ein Untergebener? Ist er älter oder jünger?


„Mach uns Ehre“


Eine Frau steht in einer überfluteten Straße neben ihrem Haus

Respekt

So spiegelt die Sprache auch die große Bedeutung von Hierarchien, die sich in der jahrhundertelangen Isolation Japans verfestigt hatten. Eine ständische Gesellschaft mit mächtigen Fürsten und Landesherren und dem Schwertadel der Samurai hatte sich etabliert, Bauern rangierten vor Handwerkern, Kaufleute waren zwar wohlhabend, aber nicht geachtet. Über allem stand der Kaiser, der Tenno. Er übte nicht immer die politische Macht aus, galt aber im Shintoismus lange als oberster Priester mit Gottstatus.

Mit der Öffnung des Landes, die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, löste sich die starre Ordnung auf – geblieben ist der Respekt. In der Familie nennen Kinder ihre Eltern immer noch „geehrte Mutter“ und „geehrter Vater“, Schüler treten morgens vor der Fahne an oder grüßen den Lehrer mit „Meister“. „Mach uns Ehre“ lautet eine gängige Forderung der Eltern an ihre Kinder, und die akzeptieren diesen Anspruch. Im Unternehmen blicken junge Mitarbeiter zu älteren auf, eine abweichende Meinung wird nicht geäußert – jedenfalls nicht offen. Vorgesetzte behandeln Berufsanfänger noch heute oft nach dem Prinzip von „Kohai“ und „Sensai“: Der Lehrer nimmt den Schüler unter seine Fittiche, gibt wohlwollend-streng Hilfe und begleitet seinen Weg.

Götter und Glaube

Und wie halten es Japaner mit der Religion? Sind die traditionellen Glaubensrichtungen Buddhismus und Shintoismus noch prägende Kräfte? Laut offizieller Statistik gehören rund 80 Prozent der Menschen beiden Konfessionen an – und bedienen sich auch ganz unbefangen bei beiden. Es ist kein Widerspruch, eine Hochzeit nach Shinto-Ritus auszurichten und ein Begräbnis nach buddhistischem Ritual. Ob Urlauber auf der Reise in einem Schrein ein Opfer darbringen oder Bauern um eine gute Ernte bitten: Im Vordergrund steht, sich mit den Göttern gut zu stellen. „Es geht nicht um tiefe Religiosität, sondern um Bewältigung des Diesseits“, meint Helmut Becker.

Dennoch ist der Einfluss von Religion auf das Verhalten in Naturkatastrophen nicht zu unterschätzen. Gerade der Shintoismus kennt zahlreiche Naturgottheiten, und die sind nie nur gut oder nur böse. So bringt der Gott des Windes einerseits zerstörerische Taifune, andererseits den wichtigen Regen. Auch der Buddhismus lehrt, im Angesicht von Not und Leid die Haltung zu bewahren, und führt zu Demut gegenüber der Natur und ihren Ereignissen. Und so stellt sich auch niemand die Frage, ob Beben oder Überschwemmung eine Strafe der Götter seien.

Wichtiger als Philosophien, Zen und Weltentrückung bleibt für die Mehrzahl der Japaner stets pragmatisches Verhalten. „Shou ga nai“ – du kannst es nicht ändern, also mach das Beste draus – ist fast schon ein Leitspruch für die Bewältigung des täglichen Lebens. An die Stelle von Prinzipien, auf denen in westlichen Gesellschaften gern herumgeritten wird, tritt Pragmatismus – „dem sogar die Moral untergeordnet wird, wenn es denn nötig ist“, erklärt Helmut Becker.

Aufstieg zur Spitze

Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete für Japan eine tief greifende Zäsur. Als die Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki – in einer gewaltigen Anstrengung der Gemeinschaft – bewältigt war, begann ein Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht. Heute ist das Land eine der führenden Industrienationen der Erde, seine Produktionsmethoden wurden Vorbild sogar in den USA oder in Deutschland, Autos, Computer oder Elektronik made in Japan dominieren die Märkte.

Welt im Wandel

Der Wandel machte vor altehrwürdigen Institutionen nicht halt. Kaiser Hirohito verzichtete auf seinen Status als Gott, die Tradition der Samurai – sofern sie in der jüngeren Vergangenheit überhaupt noch lebte – hat sich verflüchtigt und spielt allenfalls noch in westlichen Vorstellungen eine Rolle. So sind auch die „Helden von Fukushima“, die sich angeblich freiwillig für die Gemeinschaft opfern, eher ein Propagandaklischee als Realität.

Freilich gingen auch die Krisen der Weltwirtschaft an Japan nicht spurlos vorüber. Selbst Großkonzerne, die ihren Mitarbeitern eine Vollversorgung von der Wiege bis zur Bahre garantierten, können solche Leistungen immer seltener erbringen. Längst nicht alle Arbeitnehmer fühlen sich noch lebenslang an ihr Unternehmen gebunden. Die Überalterung der Gesellschaft fordert ihren Tribut, eine Gesellschaft, in der Vater und Mutter in hohem Ansehen stehen, muss sich plötzlich mit Altersarmut auseinandersetzen. Auch die Alltagskultur verändert sich: Westliche Musik und Mode halten Einzug, Sitten lockern sich. Umgekehrt werden Manga und Karaoke zum Exportschlager in Europa und Amerika.






Doch trotz aller Vermischung zwischen West und Ost bestimmen nach wie vor Disziplin und pragmatische Pflichterfüllung den Alltag, immer noch fehlt – so Helmut Becker – jeder Sinn für Larmoyanz. Und das lässt die Japaner wohl gerade in Krisenzeiten noch enger zusammenrücken.