Samstag, 19. März 2011

Alliierte starten massive Luftschläge gegen Gaddafi-Regime

Alliierte starten massive Luftschläge gegen Gaddafi-Regime


Mehr als 100 Marschflugkörper, Kampfjets, elektronische Kriegsführung: Am Samstagabend haben amerikanische, britische und französische Einheiten in Libyen Stellungen und wichtige Logistik von Gaddafi-Truppen angegriffen. Die Rebellen jubeln über den Start der "Operation Odyssey Dawn".



Hamburg - Es sah so aus, als hätte der Revolution letzte Stunde geschlagen - da schritt der Westen doch noch ein.

Seit Samstagabend führt die internationale Staatengemeinschaft Krieg gegen Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi. Französische Kampfjets donnern über die Rebellenbastion Bengasi weg, vernichten libysche Panzer. Von britischen und US-Kriegsschiffen starteten Marschflugkörper, britische Düsenjäger operieren über dem libyschen Luftraum. Ein französischer Flugzeugträger ist ins Krisengebiet unterwegs, ebenso dänische, kanadische und belgische Kampfjets.


Der amerikanische Direktor des Stabs, Vizeadmiral William Gortney, erläuterte im Pentagon die Einzelheiten des Angriffs. Insgesamt hätten britische und US-Kriegsschiffe und U-Boote 112 Tomahawk-Marschflugkörper mehr als 20 Ziele vor allem im Westen an und nahe der Küste angegriffen: Luftabwehrstellungen rund um die Hauptstadt Tripolis und Misurata, Kommunikations- und Kommandoeinrichtungen. "Die Ziele wurden aufgrund einer gemeinsamen Bewertung ausgesucht", sagte Gortney. Es werde einige Zeit dauern, "bis wir ein Bild vom Erfolg dieser Schläge haben werden".

Dies sei nur die erste Phase der mehrstufigen Operation, betonte Gortney. Bodentruppen seien nicht im Einsatz. Er erklärte zudem, die USA hätten das Kommando der Operation übernommen, und zwar durch Admiral Samuel J. Locklear auf der "USS Mount Whitney". Das Kriegsschiff sei Teil einer Flotte von 24 Schiffen aus Italien, Kanada, Großbritannien und Frankreich. Das Bekenntnis ist umso interessanter, da US-Präsident Barack Obama vor dem Einsatz betont hatte, die USA würden nicht in erster Reihe stehen.

Obama bestätigte den Angriff. Die USA hätten mit "begrenzten militärischen" Aktionen begonnen, sagte er während eines Besuchs in Brasilia, der Hauptstadt Brasiliens. Er sei sich der Risiken für die Streitkräfte seines Landes schmerzlich bewusst. "Ich will, dass das amerikanische Volk versteht, dass die Anwendung von Gewalt nicht unsere erste Wahl war und keine Wahl, die ich auf die leichte Schulter nehmen. Doch wir können nicht tatenlos zusehen."

Die Maßnahmen seien "notwendig, rechtmäßig und gerecht", sagte auch der britische Premierminister David Cameron. Seine Gedanken seien bei den Militärangehörigen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um andere zu retten.

Gaddafi wettert gegen "Kreuzfahrer"

Gaddafi erklärte in einer kurzen Ton-Botschaft, die vom staatlichen libyschen Fernsehen am Abend ausgestrahlt wurde, dass der Mittelmeerraum und Nordafrika nun zum Schlachtfeld würden. Die Interessen der gesamten Region seien nun durch den Angriff der "Kreuzfahrer" bedroht. Er rief Afrikaner, Araber, Lateinamerikaner und Asiaten dazu auf, den Libyern gegen den Feind beizustehen. Er wolle seine Arsenale öffnen und seine Anhänger mit allen Arten von Waffen ausrüsten.

Der Generalsekretär des libyschen Volkskongresses, Mohammed al-Sawi, sprach von einer "barbarischen Aggression". Die Raketenangriffe hätten "einigen Schaden an Zivilisten und Gebäuden" verursacht. Konkrete Opferzahlen nannte er zunächst nicht. Das libysche Fernsehen berichtete, dass bei Luftangriffen auf Tripolis Wohngebiete getroffen worden sein sollen. Die Berichte konnten zunächst nicht von unabhängigen Quellen bestätigt werden. In der Nacht erklärte das Außenministerium in Tripolis, dass Libyen eine Dringlichkeitssitzung des Weltsicherheitsrats fordert.

Zuvor hatten französische Kampfjets nahe Bengasi mehrere Panzer und Militärfahrzeuge der Gaddafi-Truppen zerstört.

"Öl ist Ihnen wichtiger als Menschenrechte"

Die Demokratiebewegung in Libyen bejubelt die Luftschläge der Alliierten. Doch sie wirkte zunächst auch enttäuscht. "Wir Libyer denken, dass die internationale Gemeinschaft versagt hat", sagte Fateh Terbel, Mitglied der provisorischen Rebellenregierung, SPIEGEL ONLINE noch am Samstagvormittag. "Öl ist Ihnen wichtiger als Menschenrechte."

Tatsächlich ließ die Welt die Rebellen in ihrem Kampf lange im Stich. Sie hörte, wie Gaddafi sein Volk niederschrie. Wie er Menschen, deren Schutzbefohlener er ist, als Ratten beschimpfte. Sie sah Gaddafis Bomben auf die von Rebellen kontrollierten Städte niederprasseln, sah Tausende Libyer über die Grenzen fliehen, sah wie ein ganzes Land in Gewalt versank. Und schritt zunächst doch nicht ein.

Die Staats- und Regierungschefs des Westens redeten von "brutaler Unterdrückung". Von "Einschüchterung" und "Gewalt". Von "Grausamkeiten gegen das eigene Volk". Sie warnten, mahnten, drohten. Gaddafi bekriegte sein Volk weiter.

Die EU verhängte Sanktionen gegen Libyen; verschärfte sie; sperrte Konten des Gaddafi-Clans. Anhaben konnte sie dem Diktator nichts. Noch immer verfügte er über große Vermögen; laut "Financial Times" kauften EU-Staaten trotz aller Gräueltaten weiter libysches Öl.

Der Diktator indes kaufte sich neue Söldner, ließ Milizionäre, Stammeskämpfer, Revolutionsgarden marschieren. Die Krieger des Diktators drangen zu den letzten Bastionen der Rebellen vor, nach Misurata, nach Zintan, nach Adschdabija - und schließlich nach Bengasi, der Rebellenhochburg. Sie umzingelten die Städte. Wie viele Menschen getötet wurden, lässt sich kaum schätzen.

"Wo bleiben die Westmächte?"

Die Rebellen wehrten sich - doch sie waren chancenlos. Wie das Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) in London angibt, kämpfen sie mit bescheidenen Mitteln. Zwei sowjetische MiG-23-Kampfjets; ein russischer Kampfhubschrauber Mi-24; eine Fregatte der sowjetischen Koni-Klasse; drei Kampfpanzer T-55; ein Schützenpanzer BMP-1; einige Artilleriegeschütze - über mehr Waffen verfügten die Aufständischen nicht. Bei einigen Geräten ist unklar, ob sie einsatzfähig sind.

Ganz anders das Kriegsgerät Gaddafis: bis zu zehntausend Soldaten und Milizionäre sollen für den Machthaber kämpfen. Sie verfügen über sechs Geschwader mit bis zu 40 Kampfjets; zahlreiche Helikopter, darunter russische Kampfhubschrauber Mi-24; mehr als 160 schwere Kampfpanzer und mehr als leichte 160 Schützenpanzer; Artilleriegeschütze; zwei Diesel-U-Boote; eine Fregatte und ein gutes Dutzend Patrouillenboote.

Während der Weltsicherheitsrat hinter verschlossenen Türen beriet, überzog Gaddafi die Aufständischen mit Artilleriebeschuss und Luftangriffen. Während Deutschland Außenminister Guido Westerwelle wochenlang bei einer Flugverbotszone zauderte, strafte Gaddafi die Demokratiebewegung mit einem Blutgericht. "Wo bleiben die Westmächte?", fragten Rebellenführer immer wieder.

Fast schien es, die internationale Gemeinschaft zaudere zu lange. Ihre Diplomatie drohte von einer neuen Realität überrollt zu werden. Am Samstag schien Gaddafi kurz davor zu sein, die Macht über das Land zurückzuerlangen.

Barrikaden aus Müllcontainern, Molotow-Cocktails gegen Panzer

Seine Bodentruppen griffen die Rebellen-Hochburg Bengasi an. Über der Stadt wurde ein Kampfjet abgeschossen. Die Rebellen hatten dem Aufmarsch nicht mehr viel entgegenzusetzen. In den Straßen Bengasis errichteten die Menschen Barrikaden aus Müllcontainern, Holzpaletten, Steinen und Bettgestellen. Junge Männer bauten Molotow-Cocktails, um sich zu verteidigen.

Doch dann, in letzter Sekunde, kam der Angriff der Westmächte doch noch.

Was wäre passiert, wenn sie es nicht getan hätte? Dann wäre Bengasi vermutlich gefallen. Die Schaltzentrale der Rebellen wäre eingenommen gewesen. Und die westlichen Truppen wären machtlos gewesen: Ihre Flugverbotszone hätte keinen Sinn mehr ergeben - es hätte keine Städte mehr gegeben, die bombardiert werden müssen. Wahrscheinlich wäre die Revolution erstickt. Dem Land hätten weitere Jahre der Schreckensherrschaft und ein schwelender Bürgerkrieg gedroht.

Jetzt sind Gaddafis Truppen zunächst zurückgedrängt. Dem Land droht nun ein erbittertes militärisches Gefecht. Denn so schwer die Durchsetzung der Angriffe im Uno-Sicherheitsrat, so kompliziert dürfte auch die Umsetzung des Versuchs geraten, Gaddafi zu verjagen.

Dass die Revolution aber zumindest wieder eine Chance hat, ist vor allem einem Mann zu verdanken: Nicholas Sarkozy. Frankreichs Präsident hatte sich im Alleingang für die militärische Option eingesetzt - und damit nicht zuletzt den deutschen Bündnispartner brüskiert. Wenn Libyens Revolution gerettet wurde, vielleicht in letzter Sekunde, dann ist es dieses Mal eben jenem forschen Vorgehen zu verdanken, für das Sarkozy sonst so oft kritisiert wird.


Frankreichs markige Haltung ist machtpolitisch begründet. Die Regierung sieht Maghreb als den Vorgarten Frankreichs; nach den Revolten in Tunesien und Ägypten wollte sich Sarkozy nicht noch einmal von USA oder Großbritannien die Führung aus der Hand nehmen lassen. Auch hofft der Präsident, dass sein entschlossenes Durchgreifen seine Beliebtheitswerte steigen lässt. Diese waren zuletzt auf ein historisches Tief gefallen - kurz vor den wichtigen landesweiten Lokalwahlen.

Die deutsche Regierung dagegen gefällt sich - ebenfalls mit Blick auf anstehende Landtagswahlen - in der Rolle des Oberpazifisten. Im westlichen Bündnis aber dürfte die Enthaltung der Deutschen als unsolidarisch empfunden werden. Die Bundesregierung muss sich jetzt dafür rechtfertigen, dass sie einerseits wochenlang den Freiheitskampf des libyschen Volkes hochgehalten hat, am Ende aber nicht mitmacht, wenn es gilt, diese Freiheit notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen.