Samstag, 26. März 2011

Hundertausende fordern sofortiges Atom-Aus

Hundertausende fordern sofortiges Atom-Aus

Hundertausende gehen sind für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie auf die Straße gegangen


Über 200 000 Menschen sind in Deutschland auf die Straße gegangen, um für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zu protestieren. Bundeskanzlerin Merkel bleibt aber bei ihrer zögerlichen Haltung und verbittet sich jeden Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit.
 
„Ob nun Wahlkampf ist oder ob kein Wahlkampf ist, und ob Japan 9000 Kilometer weg ist oder nicht: Dass ein vernünftiger Mensch in einer solchen Situation einfach mal innehält und sagt, auch ich kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, das ist einfach der gesunde Menschenverstand, den wir da anwenden“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag in Trier. Es sei „der Sache angemessen“, sich dafür eine Ruhepause von drei Monaten zu gönnen.

Die Bundesregierung wolle ein zukunftsfähiges Energiekonzept: „Und wenn diese Landtagswahlen rum sind, dann wird sehr erkennbar werden, dass die Bundesregierung genau an diesem Energiekonzept Schritt für Schritt weiterarbeitet.“ Ein sofortiges Abschalten aller Atommeiler sei nicht möglich. Wer gegen Atomkraft demonstriere, müsse auch bereit sein, Stromleitungen für den Transport von Windenergie vom Norden in den Süden zu akzeptieren. „Kopf in den Sand und überall an der Spitze der Demonstranten stehen, das ist nicht zu machen.“

Am Sonntag werden in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg neue Landtage gewählt. Die Union steht wegen ihres vermeintlichen Schwenks in der Atompolitik im Verdacht, vor allem im Hinblick auf die beiden Urnengänge gehandelt zu haben. Die Glaubwürdigkeitskrise wurde durch die so genannte Protokoll-Affäre von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) zusätzlich verschärft. Er soll in kleiner Runde vor Wirtschaftslobbyisten zugegeben haben, dass das Atom-Moratorium nur Wahlkampftaktik sei.

Hundertausende für sofortigen Atom-Stopp

In den vier größten Städten Deutschlands gingen am Samstag rund 210 000 Menschen für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie auf die Straße. Nach Angaben des Bundes für Umwelt und Naturschutz beteiligten sich allein in Berlin rund 90 000 Menschen an der Demonstration. In Hamburg seien rund 50 000 Menschen und in Köln 40 000 Menschen auf die Straße gegangen. Rund 30 000 Teilnehmer zählten die Veranstalter in München. Die Aktionen stehen unter dem Motto „Fukushima mahnt: alle Atomkraftwerke abschalten“.

SPD-Chef Sigmar Gabriel wertete die große Beteiligung an den Protesten als Beleg, dass die Menschen in Deutschland den Atomausstieg wollten. „Sie wollen, dass wir die Energiewende beschleunigen. Und sie haben die Nase voll von den wahltaktischen Spielchen von Union und FDP.“ Es gehe nicht darum, jetzt ein paar Atomkraftwerke kurz vor Landtagswahlen vorübergehend stillzulegen. „Die ältesten Atomkraftwerke müssen sofort und endgültig vom Netz. Alle anderen müssen anhand modernster Sicherheitsanforderungen überprüft und dann nach und nach abgeschaltet werden.“

Töpfer fordert schnelles Handeln
 
Die Bundesregierung hatte in der vergangenen Woche zur Lösung der Atomfrage unter anderem eine Ethik-Kommission ins Leben gerufen. Deren Vorsitzender, der ehemalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU), plädiert ebenfalls für einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atomenergie. Der „Bild am Sonntag“ sagte er: „Wir sollten aus einer Technik, bei der Ereignisse nicht ausgeschlossen werden können, die nicht beherrschbar sind, so schnell wie möglich rausgehen. Ein anderes Handeln wäre nicht verantwortlich.“

Zwar sei in Deutschland nach menschlichem Ermessen kein Beben der Stärke 9 und kein Tsunami zu erwarten, sagte Töpfer mit Hinweis auf die Ereignisse in Japan. Der CDU-Politiker verwies aber auf mögliche Gefahren wie Angriffe mit Computerviren oder Flugzeugabstürze. Töpfer hält es für richtig, dass die Bundesregierung die sieben ältesten Atomkraftwerke vom Netz genommen hat. Hätte Merkel nichts getan, hätte man ihr Aussitzen vorgeworfen. Mit einer Wiederinbetriebnahme der sieben Meiler rechnet Töpfer nicht. „Ganz persönlich glaube ich, dass es sehr schwer sein dürfte, für ein Wiederanfahren der abgeschalteten Meiler gute Argumente zu finden“, sagte der Ex-Minister.

Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer glaubt nicht, dass die sieben abgeschalteten Atomkraftwerke wieder ans Netz gehen. „Ich kann mir schwer vorstellen, dass es wirtschaftlich ist, sie noch einmal nachzurüsten“, sagte der CSU-Vorsitzende dem „Spiegel“. Er wünsche sich bis 2020 einen weitgehenden Abschied von der Kernenergie und wolle „energiepolitisch ein grünes Bayern schaffen“.

Nach Berechnungen des Umweltbundesamtes (UBA) könnte Deutschland bis 2017 alle Kernkraftwerke stilllegen, ohne dass die Stromversorgung oder die Klimaschutzziele gefährdet seien. Im deutschen Kraftwerkspark gibt es laut UBA Überkapazitäten von elf Gigawatt, was es erlaube, die sieben ältesten Meiler plus das AKW Krümmel nicht wieder anzuschalten. Vor allem Erdgas-Wärme-Kraftwerke könnten bis 2017 sukzessive die Stromproduktion der neueren AKW übernehmen.